Allex, Kalkan (Hg.): ausgesteuert-ausgegrenzt...angeblich asozial. ISBN9783930830565- 500gr

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ISBN 978-3-930-830-56-5 / 1. Auflage 2009 / 351 Seiten / 28 Euro

Kurzbeschreibung

Der Berliner Arbeitskreis „Marginalisierte - gestern und heute!“ befasst sich mit der Geschichte von Unangepassten und Missliebigen, insbesondere der Aufklärung über die Verfolgung und Vernichtung so genannter Asozialer im Nationalsozialismus.

Im Buch werden Kontinuitäten und Brüche dieser Entwicklung bis hin zu aktuellen Erscheinungen unter den Fragestellungen „Wer ist nützlich?“ und „Wer ist minderwertig?“ diskutiert. Kulminationspunkt der Beiträge ist die Auseinandesetzung mit dem Wesen des Stigmas „Asozial“, das im Prinzip auf diskriminierenden Zuschreibungen fußt.

Im jeweils spezifi sch historischen Spannungsfeld der Sozialpolitiken und des (sozialadministrativen) Arbeitszwangs, den dazu benutzten Argumentationen und dem spezifi schen Verwaltungshandeln werden unter anderem die geschlechtspezifi sche Diskriminierung von Frauen und Mädchen, die Unterdrückung von Heimkindern, die Repression gegen Strafgefangene und die Verfolgung von Bettlern, „Widerständigen“ und „Gemeinschaftsfremden“ thematisiert.


Film- und Lesereise 24.10. - 30.11.2011

"arbeitsscheu-abnormal-asozial"
Kontinuitäten und Brüche sozialer Ausgrenzung
In der Veranstaltungsreihe befassen wir uns mit der weitgehend „vergessenen“ Gruppe der so genannten Asozialen. Als Opfer des deutschen Faschismus wurden sie zu keiner Zeit anerkannt, sondern weiter verfolgt und diskriminiert. In einer zweiteiligen Veranstaltungsreihe im Oktober und November 2011 werden wir auf dieses vernachlässigte Thema im Rahmen einer Film- und Buchbesprechung eingehen. Der Film „arbeitsscheu- abnormal-asozial“- Zur Geschichte der Berliner Arbeitshäuser thematisiert die Geschichte des größten Arbeitshauses in Deutschland, das in Berlin an der Rummelsburger Bucht stand. Zwischen 1933 und 1945 wurden Menschen aufgrund von Vermutungen, Verdacht und Denunziation als „asozial“ abgestempelt. Sie wurden zunächst in Arbeitshäuser verbracht, später unter der Bezeichnung „Asoziale“ in Konzentrationslagern oder auch Heil- und Pflegestätten deportiert, mit Zwangsarbeit gequält bzw. umgebracht, wie im Buch „Ausgesteuert – ausgegrenzt ... angeblich asozial“ von Allex/Kalkan (Hrsg.) gezeigt wird. Da diese Verbrechen bis heute keine hinreichende Aufarbeitung fanden, greift die Zuschreibung „Asozialität“ als Kategorie sozialer Ausgrenzung bis heute.
Mit der Film- und Lesereise im Oktober und November 2011 durch 10 Städte im deutschsprachigen Raum wollen wir im Kontext der Erinnerung an die so genannten Asozialen um Unterstützung für die Entstehung eines europäischen Ortes zum Erinnern und Nachdenken an die so genannten Asozialen auf dem Areal des ehemaligen Arbeitshauses an der Rummelsburger Bucht in Berlin werben. Das Projekt wird gefördert von der Stiftung "Menschenwürde und Arbeitswelt" und dem Verein der AG SPAK. Mittel bei der Stiftung Fraueninitiative Köln sind beantragt.

 

Film“arbeitsscheu – abnormal – asozial”

Zur Geschichte der Berliner Arbeitshäuser Ein Film von Andrea Behrendt

Der 30minütige Dokumentarfilm wirft einen Blick auf die vergessene Geschichte der Berliner Arbeitshäuser, schwerpunktmäßig auf das Arbeitshaus Rummelsburg. Zu Wort kommen Akteure, die etwas mit diesem Ort zu tun haben. Weiterhin werden ein Historiker, eine Pensionswirtin, die ihre Gäste im ehemaligen Arresthaus des Arbeitshauses beherbergt und eine Aktive des Arbeitskreises Marginalisierte befragt. Sie erinnern mit Gedenkveranstaltungen an die Geschichte der „Asozialen“ während des Nationalsozialismus. Fragmentarisch kommen die einzelnen Erzählungen zusammen. Die Geschichte des Ortes ist noch längst nicht umfassend erforscht. Bis in die 50er Jahre wurde das Gelände als Arbeitshaus genutzt, später während der Zeit der DDR als Gefängnis. Der Bogen wird weit gespannt. Vom preußischen Arbeitsethos bishin zu Hartz IV thematisiert der Film welche Auswirkungen staatliche Abhängigkeit auf das Leben derer hat, die aus den Rastern eines vorherrschenden Arbeitsethos heraus fallen. Buch und Regie: Andrea Behrendt, Kamera: Kirsten Bilz - DVD Bestellungen für 14,90 Euro pro DVD zuzügl. Versandkosten! (Sonderkonditionen für Einkommensarme möglich!)

Reiseroute
Mo, 24.10.2011, 19:00 - 22:00 Uhr Bremen Kulturzentrum Paradox, Bernhardstr. 10-12, 28203 Bremen
Mi, 26.10.2011, 20:00 Uhr Bielefeld AJZ (ArbeiterjugendZentrum), Heeper Str. 132, 33607 Bielefeld
Fr, 28.10.2011, 19:00 Uhr Köln Naturfreundehaus Köln-Kalk, Kapellenstraße 9a, 51103 Köln
29.10.2011, 19:00 - 22:00 Uhr, Dortmund Taranta Babu, Humboldtstr.44, 44137 Dortmund
30.10.2011, 19:00 - 22:00 Uhr Bochum Bahnhof Langendreer, Wallbaumweg 108, 44894 Bochum
8.11.2011, 18:15 - 20:00 Uhr, Berlin Moviemento, Kottbusser Damm 22 - 10967 Berlin
21.11.2011, 20:00 Uhr Wien Kulturzentrum Spittelberg/ Amerlinghaus, Stiftgasse 8, 1017 Wien
23.11.2011 München 25.11.2011, 19:00 Uhr Stuttgart Stiftung Geissstrasse 7, Geissstr. 7, 70173 Stuttgart
27.11.2011, 20.00 Uhr Heidelberg Cafe Gegendruck, Fischergasse 2, 69117 Heidelberg
28.11.2011, 18:00 - 20:00 Uhr Ludwigshafen FH Ludwigshafen, Ernst-Boehe-Straße 4, 67059 Ludwigshafen
29.11.2011 19:00 Uhr Freiburg
30.11.2011, 19:00 - 22:00 Uhr Basel, Schweiz Planet 13, Klybeckstrasse 60, CH - 4057 Basel

Lokale VeranstalterInnen
Gesundheitsladen Bremen, Solidarische Hilfe Bremen, Antifa Bielefeld, NaturFreunde Köln e.V., Naturfreunde Kreuzviertel Dortmund e. V., Bahnhof Langendreer/ Sozialberatung Bochum, Globale Filmfestival Berlin, Antifaschistische Initiative Heidelberg, Prof. Dr. Ariane Brennsell, FH Ludwigshafen, Planet 13.



Inhaltsverzeichnis

Dirk Stegemann : Wider einer Gesellschaft der sozialen Ausgrenzung! / Rolf Schwendter Vorwort
NS- verfolgte so genannte Asoziale
Wolfgang Ayaß : Bettler und soziale Außenseiter im Nationalsozialismus / Frank-Uwe Betz: NS-Verfolgung widerständiger „kleiner Leute“ und „Gemeinschaftsfremder“  / Christa Schikorra: „Herumtreiberei“ und „liederlicher Lebenswandel“  / Hans-Peter Klausch: „Vernichtung durch Arbeit“ – Strafgefangene  der Emslandlager im KZ Neuengamme / Andrea Behrendt u.a.: Das Jugendkonzentrationslager für Mädchen
und junge Frauen Uckermark / Elvira Manthey: „Ihr kommt alle weg“ / Hans Coppi: Aktion „Arbeitsscheu“
NS-Ideologien und Institutionen
Wolfgang Ratzel: Rolle der Verwaltung bei der Vernichtung „asozialen“ Lebens  / Dieter Glietsch
Ausgrenzung und Verfolgung und die Verstrickung der Polizei / Dieter Maier: Die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ als Arbeitseinsatzpolitik  / Dietrich Kalkan: „Schwachsinn jeder Ursache“ / Robert Sommer : Die Geschichte der Lagerbordelle  / Günter Saathoff, Ulla Jelpke, Elvira Manthey, Christa Schikorra, Karl Stenzel : Zur Rehabilitierung und Entschädigung von „Asozialen“
Retro – Per – Spektive
Sven Korzilius: Arbeitsethik, Sozialdisziplinierung und Strafrecht  in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR  – Kontinuität oder Diskontinuität? / Ralf Axel Simon : Ich wollte Sand im Getriebe der Macht sein / Anne Allex / Dido: Portrait: Karlheinz Weigand (1955-2003)  / Dirk Stegemann : „Ravensbrücker Ballade“ von Hedda Zinner  – Positionen zu einer Auseinandersetzung / Harald Rein : Wer Vollbeschäftigung ruft, wird Arbeitsdienst ernten! / Lothar Eberhardt: Portrait: Bruno Schleinstein
Rück-Blick vor 1933
Claudia v. Gélieu: Arbeitshaus, Bettelvoigt und Tretmühle / Klaus Trappmann: Weh, dass es die gibt, die darben… - zur Geschichte des Berliner Asylvereins / Thomas Irme : Vom Ochsenkopf nach Rummelsburg
Blickwinkel – Wechsel ab 2008
Anne Allex: Kein Mensch ist asozial / André Schmitz : Grabe wo Du stehst / Volker Eick: Hartz IV kommt jetzt in „Uniform“ Randgruppen-Management in der neoliberalen Stadt / Lothar Eberhardt: Enthistorisierung öffentlicher Gebäude – Entsorgung des Erinnerns an die NS-Zeit? / Katrin Framke: Arbeitshaus Rummelsburg  / Anne Allex: „Sozialer Krieg“ / Gedicht „Die Gedanken sind frei...
Arbeitskreis „Marginalisierte – gestern und heute!“Aufruf zur Schaffung eines Ortes zum Erinnern  und Nachdenken „Kein Mensch ist asozial“
Autorinnen und Autoren  / Bildnachweis

Zum Arbeitskreis „Marginalisierte – gestern und heute“ marginalisierte.de

Vorwort

 

Dirk Stegemann für den Arbeitskreis „Marginalisierte – gestern und heute!“

Wider eine Gesellschaft der sozialen Ausgrenzung!

Seit 2007 beschäftigt sich der Arbeitskreis „Marginalisierte – gestern und heute“ mit den Ursachen, Erscheinungsformen und Auswirkungen der Ausgrenzung und Verfolgung von Menschen, die vom gesellschaftlichen Reichtum an Waren und Gütern, Kultur sowie sozialen Beziehungen ausgeschlossen sind bzw. werden und/oder nicht den herrschenden Normen und Gesetzen entsprechen.

Wir sind Expert_innen der Sozialpolitik, der Erinnerungs- und Gedenkpolitik sowie der Rehabilitationswissenschaften und sehen unser Engagement als Bestandteil einer breiten politischen Arbeit für die Teilhabe aller am gesellschaftlichen Reichtum. In der Tradition antifaschistischer Politik setzen wir die Grenzen bewusst an anderer Stelle und wenden uns gegen tragende Kategorien und Konstrukte wie Geschlecht, Nation und soziale Herkunft. Dem Antisemitismus, der Fremdenfeindlichkeit, dem Sexismus und dem Ableism (Diskriminierung von Menschen mit Behinderung) der Mehrheitsgesellschaft trotzen wir in Anlehnung an Karl Marx mit einem: Jede_r soll nach seinen_ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen leben können. In unseren Aktivitäten werden wir unterstützt von Erwerbsloseninitiativen und antifaschistischen Gruppen sowie verschiedenen Stiftungen und interessierten Einzelpersonen. Mittelpunkt unserer Arbeit bildet dabei die Aufarbeitung der Verfolgung sogenannter Asozialer in der Nazidiktatur und ihrer Verschleppung und Ermordung in Konzentrationslagern.

Die Aufladung, d.h. die künstliche Erschaffung und Weiterentwicklung des Konstruktes „asozial“ ist dabei genauso Untersuchungsgegenstand wie die Umsetzung der daraus abgeleiteten Ideologie in den Institutionen und Einrichtungen.

Wir hinterfragen die Verfolgungs- und Legitimationsstrategien der geistigen Urheber sowie die Antriebsmotivationen der Erfüllungsgehilfen unter Einbeziehung der jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die diesen brutalen Ausgrenzungsprozess in Gang gesetzt und aufrechterhalten haben. Unser Ziel ist es, diese Prozesse im Hier und Jetzt zu delegitimieren und zu erfahren, wo die Menschen geblieben sind, die Opfer dieser Politik wurden.

Unser Buch soll verdeutlichen, dass die Aussteuerung, sprich die Verdrängung aus der sogenannten Mehrheitsgesellschaft an „den Rand der Gesellschaft“ und die konsequente Ausgrenzung eine prozessuale Funktion

und Methode der kapitalistischen Gesellschaft ist, um sogenannte Normalbürger im Sinne der gesellschaftlichen Werte und Normen zu disziplinieren oder theoretisch ausgedrückt, die Klasse der vom Lohn Abhängigen zu atomisieren.

Als eine unter mehreren Ausschlusskriterien wirkt in diesem Sinne das Stigma „asozial“. Näher betrachtet entpuppt sich der Begriff als Fiktion, als Träger einer hinterhältigen Dichtung, Falschdarstellung und Projektion.

Denn in seiner vielseitigen Verwendbarkeit und geschmacksabhängigen Dehnbarkeit dient er als abgestandene und aufgewärmte Kreation zur Legitimation ersponnener Normen und eigener Zwänge. Abgeleitet von einem protestantischen Arbeitsethos wurde die Illusion einer vermeintlichen Glückseligkeit und materiellen Sicherheit des Individuums von einer bedingungslosen Unterordnung abhängig gemacht und verbunden mit der Ausgrenzung „Überflüssiger“. Um die Unvollkommenheit dieses Glücksversprechens zu rechtfertigen, werden die negativen Teile abgespalten und auf die „Schwächeren“ übertragen. Dazu braucht es einen Begriff, der wie ein Zeichen wirkt, das die Menschen markiert und ihren Ausschluss sichtbar macht: „asozial“.

Ohne Rücksicht auf den Bewusstheitsstand rückt unsere Deutung sehr genau die Folgen des objektiv wirkenden Grundwiderspruches des Kapitalismus, der in der wachsenden Vergesellschaftung der Produktion einerseits und der privatkapitalistischen Aneignung ihrer Resultate andererseits besteht, in den Mittelpunkt der Betrachtung. Denn ob des Geltens dieses Grundwiderspruches werden die sozialen Beziehungen zwischen Menschen immer wieder gesprengt, da sie als Einzelindividuen mit anderen Einzelindividuen immer von Neuem in Konkurrenz zueinander um Arbeitsplatz und bessere Lebensumstände gesetzt sind. Der Begriff kann daher nur verwendet

werden, um eben diesen Prozess im Sinne einer umfassenden Ideologiekritik zu benennen. „Asozial“ ist also primär nicht das Verhalten der Abgestempelten, sondern eine unsolidarische Gesellschaft wird dort auf ihren Hund gebracht, wo sie die Teilhabe vorenthält und unsozial denkt und handelt.

Wie es sich mit den Grundwidersprüchen im Besonderen verhält, stellen die Beiträge in diesem Band über NS-Ideologien und -Institutionen klar. Mit der Übertragung der schon vor 1933 entwickelten Idee der Rassenhygiene auf die „Asozialen“ und der damit verbundenen angeblich wissenschaftlich nachgewiesenen Vererbbarkeit von minderwertigen Charaktereigenschaften rechtfertigten die Nazis ihre Verfolgung, Sterilisierung, Internierung, Ermordung sowie die „Vernichtung durch Arbeit“ unter ökonomischen Gesichtspunkten.

Wer sich heute mit diesem Thema auseinandersetzt, wird feststellen, dass zwar die Verfolgung der „Asozialen“ seit langem bekannt ist, die Forschung jedoch nur von wenigen engagierten Wissenschaftler_innnen betrieben wird, während der generelle Umgang mit dieser Opfergruppe versucht, das Vergessen zum Programm zu machen. Groß ist und war die Akzeptanz für Zwangsmaßnahmen gegen „Asoziale“, die weder in der BRD noch in der ehemaligen DDR als spezifisch nationalsozialistisches Unrecht begriffen wurden. Konsequenterweise existierten die betreffenden Gesetze, die Arbeitshäuser und die autoritäre Form des Arbeitszwangs bis in die sechziger, siebziger Jahre und blieb die Annullierung von Urteilen oder Aufhebung von Entmündigungen aus. Mit der Retro – Per – Spektive, einer Art Rückschau und Durchsicht der Zeit nach 1945 nehmen wir Bezug auf die grundverschiedenen Intentionen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beider deutscher Staaten.

Wir haben unseren Arbeitskreis „Marginalisierte – gestern und heute“ gebildet, um diese Opfer dem Vergessen zu entreißen und ein würdiges Erinnern und Gedenken zu ermöglichen. Darüber hinaus wollen wir Kontinuitäten und Brüche bis in die heutige Zeit deutlich machen und anprangern, denn wir erleben eine Reaktivierung und Transformation des „Asozialen“- Begriffs in der Sozialpolitik nach 1989. Die verinnerlichte Vorstellung von dem, was Arbeit sei und was nicht, das durchgesetzte Leistungsprinzip oder besser die Ökonomie der Ausgrenzung reproduziert ausgrenzende Individuen.

Wer will, der kann auch. Und wer nicht kann, der will eben nicht und ist ein „Sozialschmarotzer“. Beispielhaft für diesen Autoritarisierungsprozess steht der Report des Bundeswirtschaftsministeriums 2005 „Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, Abzocke und Selbstbedienung im Sozialstaat“. Dort wurden Erwerbslose indirekt mit Parasiten verglichen, Sozialberater_innen als „Helfershelfer“ und „Anstifter“ zu Sozialleistungsmissbrauch

verunglimpft. ALG-II-Beziehende als „Lügner“ hinsichtlich ihrer Angaben zu Bedarfsgemeinschaften und der Herbeiführung des Bezuges von Sozialleistungen als „Phantomwohnungsmieter“, „Vermögensverdunkler“, „Einkommensverschweiger“, „singende Cabriobesitzer“, „Abzocker“ und „Sozialleistungsschnorrer“ diffamiert, um ihre Aussteuerung aus den sozialen Leistungssystemen zu legitimieren. Doch auch politisch „Missliebige“ und „Unangepasste“, die sich gezielt der kapitalistischen Verwertungslogik entziehen, werden abgewertet und ideologisch instrumentalisiert.

Heitmeyer nennt das „Ökonomisierung des Sozialen“, d.h. immer mehr werden Nützlichkeitskriterien zum Maßstab der Bewertung von Menschen. Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger_innen und andere werden verstärkt diskreditiert, sie gelten als unnütz und Bedrohung für den Rest der Gesellschaft. Es geht um eine Form, die Menschen selbst für ihre Probleme verantwortlich zu machen, während die offensichtlichen Ursachen in der gezielten politischen Diskriminierung und Logik des Kapitalismus liegen und dieses Verhältnis verschleiert werden soll.

Wir fordern auf, heute noch den Blickwinkel zu wechseln und selbstbewusst und aktiv in die laufenden sozialpolitischen und ökonomischen Diskurse einzugreifen und solidarisch zu handeln. Wir stellen fest, die individuellen Probleme der Menschen im Diskurs der Sozialpolitik interessieren nur, insofern sie der Datengewinnung und Negativzuschreibung dienen. Die Menschen werden als ein exklusives politisches Problem behandelt, ohne als Ursache die zielgerichtete Politik der Aussteuerung von immer größeren Teilen der Bevölkerung zu Gunsten einer immer reicher werdenden Minderheit zu benennen. Die soziale Situation der Einzelnen ist vor allem das unvermeidliche Ergebnis einer entsprechenden Politik. Wer als „asozial“ oder „unnütz“ zu gelten hat und ausgegrenzt wird, legen maßgeblich Politik und Wirtschaft fest, im Dreiklang mit der Forschung und präsentiert in 3D und Farbe von den gefälligen Medien. Die neoliberale Ideologie zeigt hier ihre Früchte. Sie führt zu einer Brutalisierung des Sozialen gegenüber den ohnehin bereits von der sozialen Teilhabe Ausgeschlossenen.

In Verbindung mit der Stimmungsmache für einen selbstbewussten Umgang mit dem Standort Deutschland überbieten sich die politischen Eliten im Dreschen rassistischer und diskriminierender Phrasen. Dabei werden bewusste und unbewusste im Alltagsbewusstsein konservierte, übertragene und übernommene Vorbehalte und Klischees aus den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts bedient. Mit Sprache wird Politik gemacht. Wir wenden uns entschieden gegen offizielle Diskurse, die rassistische Denkmuster verstärken und legitimieren, wie dies immer wieder im Zusammenhang mit Debatten um das Sozialrecht, aber auch Asyl- und Ausländerrecht der Fall ist und sich aktuell sehr deutlich bei der Kriminalisierung rumänischer Roma in Berlin gezeigt hat. Denn wer nicht davor zurückschreckt, rassistische Vorurteile zu schüren bzw. diese zu nutzen, schafft nicht nur Anschlussstellen für Naziideologien, sondern ist bereit, rassistischer Gewalt den Weg zu bereiten. Außerdem gilt es sich gegen eine Sozialpolitik als Disziplinierungsmechanismus zu wenden, die den Menschen durch Zwangsmaßnahmen zu einem willfährigen Werkzeug und gehorsamen Untertan machen will. Hier gilt es aus der Vergangenheit endlich konsequente Schlüsse zu ziehen. Mit dieser Zielsetzung wurden von uns 2008/09 ca. 40 Veranstaltungen organisiert und durchgeführt. Die Themen reichten von der Verfolgung und Vernichtung der so genannten Asozialen in der Nazizeit, Frauen und Mädchen in Konzentrationslagern, die Obdachlosenasyle in Berlin um 1920 bis zum Umgang mit sozialen Randgruppen und „Unangepassten“ nach 1945 in beiden deutschen Staaten. In ihrer Sonderausgabe 116/117, erschienen im Dezember 2008, hat die Zeitschrift „telegraph“ unter dem Titel „Aktion Arbeitsscheu“ die Vielfalt der Veranstaltungen durch zahlreiche Beiträge abgebildet. Das Angebot des Verlages der AG SPAK aus Neu-Ulm, darüber hinaus ein Buch zur Frankfurter Buchmesse 2009 herauszubringen, haben wir dankbar angenommen, um zusätzlich Beiträge über die Frauen und Mädchen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern veröffentlichen zu können. Wir danken allen Autor_innen, Mitstreiter_innen und Unterstützer_innen. Besonderer Dank gilt dem Kultursenat zu Berlin und der IG Metall Jugend Berlin, Brandenburg und Sachsen für die finanzielle Förderung.

Der AK „Marginalisierte – gestern und heute“ beabsichtigt noch in diesem Jahr einen gemeinnützigen Verein mit gleicher Zweckausrichtung zu gründen. Parallel dazu ist in diesem Buch ein Aufruf enthalten, der die Schaffung eines europäischen Ortes zum Erinnern und Nachdenken „Kein Mensch ist asozial“ zum Inhalt hat. Für beide Vorhaben sind Unterstützerinnen und Unterstützer sowie Mitstreiterinnen und Mitstreiter willkommen.

 

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