Abstract
Foucalt hat die Disziplinargesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts erkundet, in denen die Organisierung großer Einschließungsmilieus betrieben wurde. Stecken wir nun in einer allgemeinen Krise der Einschließungsmileus, dem Gefängnis, dem Krankenhaus, der Fabrik, Schule und Familie? Ist ein neues Ungeheuer am Horizont zu sichten, sind die Kontrollgesellschaften dabei, die Disziplinargesellschaften zu ersetzen; istdie Gegenwart als Epochenschwelle zu begreifen? Diese Frage verschafft der vorliegenden Arbeit den Rahmen, innerhalb dem eine kriminologisch exakte Einordnung der elektronischen Überwachungstechniken erfolgt. Einzelheiten und Probleme werden aufgefächert, deren Kenntnis unabweisbare Voraussetzung für jeden ernsthaften Anwortversuch seint sollte. In Deutschland - und nicht nur hier - fehlte bisher eine gründliche Aufarbeitung der eletronic suveillance; das ist jetz anders.
Vorwort
(...) Der Arbeit von Michael Lindenberg läßt sich ablesen, wie eine Kriminologie aussehen könnte, die sich nicht isoliert und abkoppelt von den gelehrten und wissenschaftlichen Diskussionen m sie herum, die darum weiß, daß sich hinter wissenschaftlicher Arbeitsteilung und praxisinduzierten Trennungen und Zuständigkeitsbegrenzungen Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten verbergen, denen nachzuspüren und die zu benennen sich lohnt. Das Thema der Kriminalität und ihrer Verarbeitung durch die Gesellschaft und - über das Strafrecht - durch den Staat wird wieder beackert als ein Terrain, auf dem sich die Gesellschaft insgesamt in ihren Konturen und Strukturen markiert hat. Lindenberg läßt seine Analyse ein in die seit der Aufklärung anhaltende Debatte über den Umgang der Gesellschaft mit ihren Mitgliedern, die sich ihren Regeln nicht fügen und anschmiegen wollen, in die Ideen des von Foucault machtvoll erinnerten "Panoptismus" eines Jeremy Bentham bis hin zu dem französischen Kritiker und Widersacher von Foucault, Georges Deleuze.
(...) Lindenberg stellt die manchem Leser trivial erscheinende Idee einer dezentralisierten und gleichsam "ambulanten" Freiheitsbeschränkung mittels des elektronischen Halsbandes in eine technokratische Tradition der Rationalisierung und Ökonomisierung des Gefängnisses. Er widerspricht in mehrfacher Hinsicht jeglichem Versuch, darin einen Schritt in Richtung der " Überwindung " von Mauern (Th. Mathiesen 1979) zu sehen. Die Legitimation und Notwendigkeit staatlichen Strafens werden durch diese technische Innovation des Freiheitsentzugs nicht berührt und nicht befragt, die Formenvielfalt und die institutionelle "Flexibilität" der staatlichen "Leidzufügung" stattdessen erhöht.
Und er macht Parallelen sichtbar und spürt Verwandtschaften auf: so zur Elektronisierung des anderen Endes strafrechtlicher Sozialkontrolle. Diese erinnert der Verfasser in der Form der "gesellschaftssanitären" Polizeiinformationstechnologischer Hochrüstung, die zur Zeit des "deutschen Herbstes" Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre als optimistische Begleit- und Zukunftsmusik zur polizeilichen Erfolglosigkeit bei der Fahndung nach terroristischen Tätern intoniert wurde.
Die Tugend dieser Arbeit besteht indessen nicht alleine in diesem Zusammenführen theoretischer und zeitdiagnostischer Analysen gesellschaftsumfassender Entwicklungen mit den (kriminal)politischen und pragmatischen Details an den alltäglichen Werkbänken gesellschaftlicher Kontrolle und Steuerung. Es ist an allererster Stelle die Art und Weise, in der er dieses unternimmt und in der ihm dieses gelingt. Nur allzu oft paart sich die ausschweifende und generalisierende Theoriearbeit mit einer nur ungenügenden Kenntnis, um nicht zu sagen mit einer Ignoranz der Welt im Kleinen, über die sich die Theorie eher verschleiernd als erhellend ausbreitet.
Einen solchen Vorwurf erspart sich die vorliegende Arbeit in beispielhafter Weise. Sie begibt sich in das Gehäuse ihres wissenschaftlichen Gegenstands mit einer Neugier und mit einem Blick für seine noch so entlegenen Räume und Ecken, die dem Leser das Vertrauen in die Gültigkeit der Beschreibung und der abgerufenen Vorstellungen nicht dementierbar vermitteln. Michael Lindenberg weiß, wovon er spricht, ebenso wenn es um die historische Entwicklung des elektronischen Halsbands geht wie wenn es sich um die zeitlichen, geographischen, technischen und quantitativen Umstände handelt, unter denen dieses Instrument einer ambulanten Freiheitsentziehung erprobt und eingesetzt worden ist.
Mehr noch: der Arbeit gelingt auch jenes Stück wissenschaftlicher Analyse, die man als "immanente" Betrachtung zu bezeichnen pflegt. Die Arbeit nimmt die Befürworter und Betreiber dieses technologischen Instruments strafrechtlicher Kontrolle bei ihrem eigenen Wort - d.h. vor allem bei ihren eigenen Versprechungen nach weniger Kosten, nach weniger Überwachung, nach humanerer Bestrafung. Sein Blick hierauf ist dabei ebenso "desinteressiert" und unvoreingenommen wie bei der Vermessung des Gegenstandes selbst. Nur böswillige Kritiker mögen bei Lektüre der Arbeit sagen, der Autor habe Glück gehabt: alle jene beabsichtigten Verheißungen und Konsequenzen, die die Entwicklung und die Erprobung des elektronischen Halsbands von Beginn an begleiteten, sind im Getriebe ihrer Umsetzung in gelebter und erlittener Wirklichkeit zerstoben. Die Gefängnisse haben sich nicht sichtbar geleert, im Gegenteil: in den USA, dem hauptsächlichen Experimentier- und Anwendungsfeld dieser technischen Freiheitsentziehungshilfe, sind die Gefängniszahlen unbeirrt weiter gestiegen; die Kosten haben sich nicht reduziert, sondern sich um technologische Arbeit erhöht; und vor allem: die "extramurale" Überwachung hat sich vermehrt und intensiviert. Die Erfolglosigkeit einer Kriminalpolitik des " more of the same " ( Leslie T. Wilklins ) läßt sich auch technologisch nicht unterlaufen, Kriminalitätskontrolle nicht zum gesellschafts- und sozialpolitischen Nulltarif haben. (...)
Fritz Sack, Universität Hamburg
Inhaltsverzeichnis
Vorwort / Danksagung / Einleitung: Kurzer Rückblick auf das Geschäft mit der Strafe Einige Vorüberlegungen zur Kommodifizierung von Strafe
I. Die Firma
1.1. Zugang zur Firma / 1.2. Von der Idee zur Industrie / 1.3. Bürokratische Kunden / 1.4. Angebote der neuen Diener / 1.4. 1. Das Flaggschiff /1.4.2. Wähle 900! / 1.4.3. Im Inneren der Überwachungsmaschine / 1.4.4. Nach dem Kauf: Service / 1.5. Internationale Erweckung / 1.6. Werben um Aktionäre /1.7. Ideologie: Ungeschminkt und handhabbar 66
II: Das Kontrollamt
2. 1. Das preiswerte Gefängnis. Sein Siegeszug in Kalifornien / 2.2. Das Bewährungsamt Tulare County: Protection, Correction, Service / 2.2.1. Ankunft / 2.2.2. Die stationäre Kontrollzentrale / 2.2.3. Der Uberwachungstechniker / 2.2.4. Leuchtendes Beispiel: Überwachung auf eigene Kosten / 2.2.5. Große Flucht / 2.2.6. Kleine Fluchten / 2.2.7. Die fahrende Kontrolleinheit / 2.2.8. Höllische Sachlichkeit. Die Bewährungsbeamten / 2.2.3. Notwendiger Nachsatz: Klassifizieren in Tulare County
III: Das helfende Amt
3.1. Eine vergleichbare Gefängnissimulation? / 3.2. Zugang und Ablehnung. Feldbedingungen in Malmö / 3.3. Steigender Druck auf das Gefängnis und die Einführung elektronischer Überwachung / 3.4. Die stationäre Hilfezentrale oder: Im Pästorat / 3.4. 1. Erste Zone / 3.4.2. Zweite Zone / 3.4.3. Dritte Zone / 3.5. Behandlungsarbeit und elektronische Überwachung / 3.5.1. Die Aufnahme. Dem Gefängnis so ähnlich wie möglich / 3.5.2. Hausbesuche
IV. Kommodifizierung strafrechtlicher Kontrolle
4. 1. Elektronische Überwachung in den USA und Schweden: Management und Therapie / 4. 1. 1. Fragmentierung vs. Zentralisierung / 4.1.2. Fallmanagement versus Klientenzentrierung / 4.1.3. Die Gemeinsamkeit: Das Gefängnis soll bleiben / 4.1.4. Acht gute Gründe für die Praxis, elektronische Überwachung einzusetzen / 4.2. Kommodifizierung von Sicherheit / 4.2.1. "Sicherheit" im Geschichtsprozeß / 4.2. 1. 1. Die väterliche Regierung oder die begleitende Polizei / 4.2.1.2. Der liberale Minimalstaat oder die gerufene Polizei /4.2.1.3. Der Sozialstaat / 4.2.2. Kommodifizierung strafrechtlicher Kontrolle / 4.2.3. Neue Netzwerke und staatlicher Einfluß / 4.2.4. Normalisierung und Akkommodierung
Literaturverzeichnis
Autor
Zunächst Bauarbeiter, Krankenträger, verschiedene gewerbliche Tätigkeiten. Studium der Sozialarbeit. Zehnjährige Tätigkeit als Sozialarbeiter im Bereich der Straffälligenarbeit. Studium der Kriminologie. Zweieinhalb Jahre Mitarbeit an einen Forschungsprojekt Technik und Soziale Kontrolle der Universität Hamburg. Seit 1996 Referatsleiter im Amt für Jugend, Hamburg.