Artikel-Nr.: M 217
- La revolución somos todos
Gespräche mit BasisaktivistInnen und Fotos aus Venezuela
ISBN 978-3-930830-04-6 I 2009 I 143 S. I 16 €
Nachrichten aus Venezuela reduzieren sich für deutsche Medien zumeist auf eine Person: Präsident Hugo Chávez. Dabei sind die dortigen Veränderungen ohne die vielfältigen Basisinitiatven gar nicht denkbar. Die Fotografin und Autorin Eva Haule hat bei ihren Aufenthalten in Venezuela in den Barrios von Caracas, auf dem Land und in anderen Städten vor allem die Hauptakteure des revolutionären Prozesses fotografiert und interviewt: die Aktivisten der Basisbewegungen. Stadtlandschaften, Panoramen der venezolanischen Hauptstadt sind zu sehen, im Mittelpunkt stehen aber Porträts der Menschen, die die bolivarische Bewegung gestalten, und die Aktivitäten ihrer Organisationen.
Mit einer Einleitung von Harald Neuber zu den sozialen Bewegungen in Venezuela und einem Glossar.
"Venezuela hingegen ist einer der Orte, an denen zur Zeit Modelle erdacht, entwickelt und erprobt werden, um eine Gesellschaft von unten neu aufzubauen. Bei aller Unterschiedlichkeit der venezolanischen und der deutschen Gesellschaft können wir dennoch das eine oder andere in unsere eigenen Überlegungen mit einfließen lassen, wie wir hierzulande im Herzen der Bestie handeln wollen. Und dann ist es schon interessant, was uns die Menschen in Venezuela zu sagen haben."
(Walter Kuhl, Radio Darmstadt, 29. Juni 2009)
Inhalt
Harald Neuber Einleitung
Yoel Capriles Ich bin ein sozialer Kämpfer der Parroquia 23 de Enero
Nora Castañeda, Omaira Vegas, Lídice Navas Wir wollen, dass die Frauen organisiert Präsenz zeigen Kollektiv
„Alexis Vive – Carajo“ Der revolutionäre Prozess ist das Wichtigste für uns
Jaqueline Sosa Wir haben eine enorme soziale Schuld gegenüber den Comunidades
Grisel Fernandez, Georgina de Bolivar Wir haben es geschafft, zu alphabetisieren
Rubén Villasana Wir werden den Prozess vertiefen
Marilú Becerra Das Land braucht eine tiefgreifende Transformation
José Luis Bolívar Die Menschen sind noch nicht bereit für den Sozialismus
Glossar
Aus dem Vorwort
Venezuelas bolivarische Revolution hat damit weit über die Grenzen des Landes hinaus an Bedeutung gewonnen. Die Regierung von Hugo Chávez steht an der Spitze einer Staatengruppe, die von sozialreformerischen Kräften regiert wird. Boliviens Präsident Evo Morales gehört dazu ebenso wie Ecuadors Staatschef Rafael Correa . Die progressiven Staaten haben mit der „Bolivarischen Alternative für Amerika“ (ALBA) inzwischen sogar ein eigenes Bündnis geschaffen, zudem auch das lange isolierte sozialistische Kuba gehört. Die links regierten Staaten haben mit Venezuela eines gemein: Hinter dem Wandel, hinter den sichtbaren Akteuren stehen die sozialen Bewegungen.
Eva Haule hat diese Menschen an der Basis portraitiert. Ihre Bilder und Interviews erzählen die Geschichten derer, die alle ihre Hoffnungen in den sozialen, politischen und kulturellen Wandel setzen, den Venezuela seit gut zehn Jahren erlebt. Ihre Zeugnisse sind nicht nur sinnvolle Zusatzinformationen, sie sind unabdingbar, um das Geschehen in Venezuela zu verstehen. Sie sind unabdingbar, weil die meinungsbildenden Medien in Europa diesen Hintergrund völlig ausblenden. In deren Weltbild wird Venezuela von einem „Caudillo“ regiert, der „tönt“, „wettert“, „schwadroniert“, „poltert“, „sein Volk entmachtet“ und „schimpft“. Kurzum: von der „größten Nervensäge des Kontinents“. All diese Zitate stammen aus dem Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel. In diesem Buch lernen wir ein anderes, weitgehend unbekanntes Venezuela kennen.
Die Gruppe „Kollektiv Alexis Vive“ etwa, die im Viertel „23 de Enero“ seit Jahren Basisarbeit leistet. Das Kollektiv ist eine der aktivsten und ältesten Gruppen, die – mitunter militant – die Bewohner gegen die externen Gefahren schützt, allen voran gegen die Polizei und Drogenbanden. Das Viertel „23 de Enero“ sei schon immer „sehr kämpferisch, revolutionär und beispielhaft“, sagt Yoel Capriles. Der 49-jährige ist in der sozialen Stadtteilarbeit aktiv. Die Organisation der Bewohner steht auch für ihn an erster Stelle: „Wir haben und zunächst in Kirchengruppen organisiert“, schildert er, „dann in Arbeits- und Sportclubs“. Jaqueline Sosa ist Koordinatorin der Vereinigten Sozialistischen Front der Fachleute und Techniker (FSUPT). Nach ihren eigenen Angaben handelt es sich um eine Organisation mit dem Ziel, „den Strukturwandel im Land im ideologischen Bereich zu unterstützen“. Neben Sosa hat Eva Haule mehrere Frauen portraitiert, die hinter der bolivarischen Revolution stehen. Nora Castañeda etwa, die Präsidentin des staatlichen Kreditinstitutes Banmujer, das Kleinkredite an Frauen vergibt. Oder Marilú Becerra, die im armen Stadtteil Antímano im Westen von Caracas eine Vorschule leitet. Täglich werden hier über mehrere Stunden hinweg Kinder im Alter von 20 Monaten bis 13 Jahren betreut. Die Kinder bekommen in dieser Zeit eine umfassende Betreuung, Frühstück und Mittagessen eingeschlossen. Auch dieses Angebot ist Teil einer der staatlichen Misiónes, der Sozialprogramme.
Diese und andere Personenportraits zeigen: Venezuelas bolivarische Revolution ist weitaus mehr, als das in Europa dominierende Bild vermuten lässt. Hier wird viel ausgegrenzt. Das gilt für die Organe des medialen Mainstreams und für politisch motivierte Redaktionen wie die des Axel-Springer-Verlags in einem besonderen Maße.
Aber auch in der Linken wird der Kontext dessen, was in Venezuela geschieht, oft ausgeblendet. Wenn zum Beispiel fast zwanghaft auf Stellungnahmen der Kommunistischen Partei Venezuelas Bezug genommen wird, so ist auch das ein Indiz dafür, das der historische Wandel in diesem Land nicht wirklich begriffen wird. Jede Art von Revolutionsromantik verhindert das Verständnis der tief greifenden Prozesse, die sich in Venezuela abspielen. Übersehen wird dabei etwa, dass der Verlauf der bolivarischen Revolution zu keinem Zeitpunkt von einer bestimmten Partei abhängig war. Das Schicksal der bolivarischen Revolution wird von denjenigen bestimmt, die sich an der Basis für ein neues Miteinander und gegen das Unrecht einsetzen. Natürlich kann von Venezuela auch die Linke in Deutschland viel lernen. Die Debatte um eine neue partizipative Demokratie ist dafür ebenso ein Beispiel wie die Frage der sozialen Organisation in den Stadtteilen. Voraussetzung für diesen Lernprozess bei uns ist aber die Bereitschaft, das Geschehen in dem südamerikanischen Land offen und ohne Vorurteile – auch positive – aufzunehmen.
Eva Haule war bereit dazu. Sie hat sich für dieses wertvolle Buch mehrere Monate lang in Venezuela aufgehalten. Sie hat mit den Menschen gelebt, ihre Sorgen und Hoffnungen geteilt.
Harald Neuber
Harald Neuber arbeitet als Journalist in Berlin. Er veröffentlicht regelmäßig in der Tageszeitung Neues Deutschland und dem Onlinemagazin Telepolis. Er ist Mitinitiator des Onlineportals amerika21.de. Neben internationalen Konflikten befasst er sich im Schwerpunkt mit Lateinamerika. Er lebte und arbeitete in Mexiko, Kuba und Venezuela.