Artikel-Nr.: M 209
Forschungsband 2 mit Beiträgen von A.Tschanen-Hauser, Zürich; Prof. Dr. Susanne Elsen, München; Prof. Dr. Walter Lorenz, Bozen; Prof. Dr. Sylvia Staub-Bernasconi, Zürich und Prof. Dr. C. W. Müller, Berlin
Schriftenreihe des europäischen Masterstudiengangs Gemeinwesenentwicklung, Quartiersmanagement und Lokale Ökonomie an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München (www.macd.hmu.edu)
2007, ISBN 978-3-930830-93-0, 122 Seiten
Inhaltsverzeichnis
Susanne Elsen Die Soziale Ökonomie des Gemeinwesens - Verunsicherungen und Bekehrungen - Wo ist das Neue? - Die toten Winkel der Gemeinwesenarbeit im deutschsprachigen Raum
Angelika Tschanen-Hauser „Community development“ studieren – transdisziplinäres Neuland betreten
Susanne Elsen Die soziale Ökonomie des Gemeinwesens Eine sozialpolitische Entwicklungsaufgabe - Gemeinwesen und Ökonomie – eine schwierige Beziehung - Die soziale Ökonomie des Gemeinwesens – Idee und normativer Anspruch - Gemeinwesenökonomie als reale Utopie - Aktuelle Beispiele und ein Versuch ihrer Erklärung - Zur gesellschaftlichen Bedeutung sozialökonomischer Selbstorganisation - Lebensweltliche Mischlogik als sozialpolitisches Potenzial - Soziale Bewegungen, Zivilgesellschaft und sozialökonomische Entwicklung - Sozialökonomische Selbstorganisation und sozialpolitische Innovation
Walter Lorenz Gemeinwesenentwicklung aus der Perspektive der Sozialen Arbeit im Europäischen Raum Silvia Staub-Bernasconi Soziale Arbeit in und mit Gemeinwesen und ihr professionelles Mandat - Ausgangssituation: Die Probleme zweier ehemaliger Arbeiterviertel nach der Deindustrialisierung - Erklärungsansätze: Reethnisierung der deutschen Bevölkerung als reflexiv nicht verfügbares Wahrnehmungsmuster und weitere Erklärungen - Was passiert, wenn sich diese negativen Kulturmuster weiter ausbreiten und verstärken? - Was wären wünschbare Integrationsleitbilder? - Handlungstheoretisch-methodische Folgerungen aus der Problemanalyse und -erklärung - Vom Doppel- zum Tripelmandat Sozialer Arbeit
C. Wolfgang Müller Gemeinwesenarbeit und Soziale Bewegungen - Blick zurück nach vorn - Die Anfänge von Gemeinwesenarbeit - Die Ruhe zwischen den Zeiten - Der neue Ansatz: Die Wiederbelebung der „sozialen Stadt“ – Gemeinwesenentwicklung als intermediäre Strategie – Gemeinwesenentwicklung als post-moderne Profession Leseprobe
Susanne Elsen
Die Soziale Ökonomie des Gemeinwesens
Orientierung in Zeiten des „Nicht-Mehr“ und des „Noch-Nicht“
Die Aussage von Angelika Tschanen-Hauser zum vorläufigen, sich in Konturen abzeichnenden Neuen trifft im Kern das, womit wir uns hier auseinandersetzen, mit der Gestaltung zukunftsfähiger Gemeinwesen vor dem Hintergrund tief greifender und schneller gesellschaftlicher Veränderungsprozesse. Eine viel zitierte Analyse unserer Epoche besagt, dass wir uns in einer Zeit des „Nicht-Mehr“ und des „Noch nicht“ befinden. Übergangszeiten bargen stets bereits das Neue unter dem Alten, bevor es vollkommen sichtbar wurde. Am Übergang zur Neuzeit, der Auflösung der Feudalstrukturen und der alten Weltvorstellungen, unter dem Einfluss von Hunger und Seuchen gründeten die, die im Alten keinen Platz fanden, das Neue: humanistische Universitäten, demokratische Formen der Arbeitsorganisation, neue politische Stadtstrukturen und innovative Technologien.
Verunsicherungen und Bekehrungen
Es gibt keine kohärente Gestalt dessen, was wir als zukunftsfähiges Gemeinwesen bezeichnen könnten, aber weltweit wächst die Erkenntnis, dass das westliche Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell nicht zukunftsfähig ist. Wenn nicht mehr nur ATTAC, sondern auch die Kanzlerin Angela Merkel nach einer Kontrolle der internationalen Finanzmärkte ruft und der EON-Chef nach einer CO2-ärmeren Welt, wenn Josef Stiglitz, der frühere Chefökonom der Weltbank und Befürworter der globalen Deregulierung der Märkte heute ihre Reregulierung und die Stärkung lokaler genossenschaftlicher Selbstorganisation fordert, wenn der erfolgreichste Börsenspekulant der Nachkriegszeit, George Soros, sein Vermögen in Stiftungen des Community-Development investiert und von der Krise des globalen Kapitalismus spricht, dann könnten wir selbstzufrieden feststellen, dass die Kritik an den destruktiven Folgen der Globalisierung neoliberaler Prägung den Mainstream erreicht hat. In jüngster Zeit wird dieser Trend verstärkt durch die Erkenntnis, dass Meadows mit seinen ökologischen Szenarien nur allzu Recht hatte und dass die Konsequenz den Ausstieg aus der Industriegesellschaft und der westlichen Konsumkultur bedeutet. Dies ist aber noch keine Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Gemeinwesen, und sie ist auch nicht aus dem Kontext der geschwächten politischen und der übermächtigen weltmarktorientierten ökonomischen Systeme zu erwarten.
Wo ist das Neue?
Oskar Negt weist in seinem Beitrag zum Thema: „Gemeinwesenarbeit in der Weltgesellschaft“ die Richtung, in der es zu finden ist: Die Alternativen sind nicht in dem abstraktradikal Anderen zu suchen und zu finden, sondern an der Unterseite der bestehenden Verhältnisse, in ihren konkreten Prägungen und ihren einzelnen Krisenherden. Unser Anliegen zukunftsfähiger Gemeinwesen ist nicht das Anliegen von Minderheiten, sondern das der Mehrheit der Weltbevölkerung. Was Negt benennt, bezieht sich auf die plurale Vielzahl der neuen gesellschaftlichen Strömungen, Bewegungen und alternativen Ansätze in Ökonomie, Ökologie, Kultur, Politik und Gesellschaft, die implizit oder explizit die Erhaltung und Gestaltung zukunftsfähiger Gemeinwesen fordern, begründen oder in konkreten Ansätzen realisieren (Klimaschutz, Rechte der indigenen Bevölkerung, Armutsbekämpfung, nachhaltige Entwicklung, Kampf gegen die Privatisierung, Fair-Trade). Diese unterschiedlichen gesellschaftlichen Strömungen, Projekte und Handlungsempfehlungen haben gemeinsam das Interesse an der Erhaltung der Evolutionsfähigkeit von Natur, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft und angesichts der Zerstörung dieser Lebensgrundlagen durch das sozial ungebundene Wirtschaftssystem, stehen Formen sozial eingebundenen Wirtschaftens im Zentrum. Was weltweit in konkreten Gegenentwürfen entsteht, ist plural, lokal und assoziativ und es wurzelt in der Zivilgesellschaft. Der derzeitige weltweite Aufbruch dieser assoziativen Alternativ- und Komplementärstrukturen ist nach Einschätzung zahlreicher Gesellschaftsanalysen sicher die bemerkenswerteste Entwicklung der vergangenen zehn Jahre. Sie verweist auf eine deutliche Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaften und auf ein Erstarken der globalen Zivilgesellschaft als Korrektiv, Gegenmacht und Ergänzung. Bemerkenswert ist auch die Bandbreite und Vielzahl wissenschaftlicher Diskurse mit hoher Relevanz für die Gemeinwesenentwicklung, insbesondere wirtschaftswissenschaftliche Positionen sozial eingebundener Ökonomien. Sie distanzieren sich von den reduzierten und fehlerhaften Vorannahmen der marktfundamentalen Position und stellen diesem Konstrukt lebensdienliche Positionen entgegen. Ich nenne stellvertretend für Schriften, die ganze Bibliotheken füllen könnten: die Begründungen zur Re-Lokalisierung der Ökonomie und der nachhaltigen Entwicklung des Iren Richard Douthwaite oder der Norwegerin Helena Hodge, die Ausführungen zur integrativen Wirtschaftsethik und der sozialökologischen und sozialökonomischen Menschenrechte von Hans-Peter Ulrich, das Konzept der Ökonomie der Wachstumsrücknahme von Herman Daly, den Entwurf einer Ökonomie für den Menschen des bengalischen Wirtschaftsnobelpreisträgers Amartya Sen, die Ausführungen über Alternativen zur Enteignungsökonomie von Christian Zeller und anderen, und die Begründung einer Mikroökonomik aus sozialökologischer Perspektive von Adelheid Biesecker, die damit der Sozialen Arbeit ein großes Geschenk gemacht hat, wenn diese sie denn wahrnimmt. Alle diese Positionen beziehen sich auf den zentralen gesellschaftlichen Entwicklungsbedarf, auf eine am Gemeinwesen orientierte, lebensdienliche Ökonomie.
Die toten Winkel der Gemeinwesenarbeit im deutschsprachigen Raum
Diese Strömungen sind für die Frage der Gestaltung zukunftsfähiger Gemeinwesen von zentraler Bedeutung. Warum aber nimmt die Gemeinwesenarbeit im deutschsprachigen Raum die unübersehbaren Entwicklungen in der Zivilgesellschaft – den Aufbruch der Bewegungen um alternative Ökonomien und Tausch, die politisch kompetenten Aktionengegen die Privatisierung, die Gründung von Sozial- und Gesundheitsgenossenschaften sowie neuen Produktivgenossenschaften, die neuen Bewegungen um die freie Nutzung von Bodenoder die Kontrolle über das Geld – kaum oder gar nicht wahr? Wieso erkennt sie nicht, dass diese Bewegungen und Ansätze Wege zum Neuen zeigen obwohl sie doch nach ihrem Selbstverständnis in und an der Entwicklung des Gemeinwesens arbeitet? Warum überlässt sie die gestaltende Arbeit in und am Gemeinwesen anderen Professionen und Disziplinen, die sie um dieses hoch anspruchsvolle Feld beerbt haben und die sich die bottom-up-Philosophien und Methoden der Gemeinwesenarbeit zu eigen gemacht haben – der Sozialgeographie, weil es ja was mit Territorien zu tun hat, der Betriebswirtschaftslehre, weil es ja offensichtlich um Ökonomie geht, der planungsbezogenen Soziologie, weil es um soziale Planung geht? Diese und andere Disziplinen sind als Bezugsdisziplinen für die Gemeinwesenarbeit zwar von Bedeutung, doch keine Profession ist für die umfassende und nachaltige Entwicklung sozialer Räume mehr geeignet. Um vorweg zu nehmen, was Sie ahnen: In diesem ursprünglichen und umfassenden Sinne verstehen wir das, was wir in den vergangenen Jahren im Rahmen des Masters Gemeinwesenentwicklung und Lokale Ökonomie gemeinsam anstreben. Wir haben nicht weniger als den Anspruch, der Gemeinwesenarbeit ihre vielfältigen Forschungs- und Handlungsfelder zurück zu erobern, und sie damit auch ihren fachtheoretischen Wurzeln wieder näher zu bringen.