Artikel-Nr.: M 124
Abstract
Der Autor spürt den Substanzen, ihren Bedeutungen und Funktionen durch die Jahrhunderte nach und überträgt seine Ergebnisse auf die aktuelle gesellschaftliche Situation. Sein Schluß: Ein anderer Umgang mit illegalen Drogen ist nicht nur aus Gründen der Effektivität gefordert, sondern die Gegenwartsgesellschaft verlangt eine solche Veränderung aus ihrer eigenen Struktur heraus.
Vorwort
Die Drogenpolitik nahezu aller Länder ist gespalten in die Legalität einiger und die Illegalität einiger anderer Substanzen. Diese Spaltung führt in der Regel dazu, daß mit legalen Drogen eher positive Wirkungen assoziiert werden (Geselligkeit, Gemütlichkeit, Kultur etc.), während man den illegalen Drogen eher negative Eigenschaften zurechnet (Abhängigkeit, Sucht, Verelendung u.s.w.). Beide Blickwinkel haben gewiß einen wahren Kern, führen aber aufgrund ihrer Tendenz zur Generalisierung doch zu völlig falschen Interpretationen. Denn sowohl die legalen als auch die illegalen Drogen können - auf gesellschaftlicher, sozialer und/oder individueller Ebene - grundsätzlich beides entfalten: positive und negative Wirkungen. Ihre grundsätzlichste Verschiedenheit ist vor allem durch ihre (straf-) rechtliche Bewertung markiert, also durch die Grenze der Legalität, die Legales und Illegales trennt und damit Gutes von Bösem scheidet.
In jüngerer Zeit gibt es Überlegungen, diese Grenze der Legalität zu verschieben, sie in Teilbereichen abzuändern oder gar gänzlich abzuschaffen. Man beginnt zu erkennen, daß es neben den vielen negativen Effekten von Drogenkonsum auch zahlreiche positive Funktionen des Drogengebrauchs gibt, und man sucht - aufgrund des allseits konstatierten Scheiterns der herrschenden Drogenpolitik - nach Möglichkeiten, diese Drogenpolitik mit weniger repressiven Mitteln zu gestalten.
So verschieden und vielfältig sich die Vorschläge für eine repressionsverminderte Drogenpolitik darstellen, so verschieden sind auch die Motivationen und Argumentationen, die für eine so zu verändernde Drogenpolitik werben. Da gibt es Anwohnerinitiativen, denen es - aus ästhetischen Gründen - vor allem darum geht, die verelendeten, kranken und obdachlosen Junkies aus ihrem Stadtteil zu eliminieren. Wirtschaftsprofessoren ist der Strafverfolgungs- und Strafvollstreckungsapparat sowie die durch die Kriminalisierung der Drogen bedingte Beschaffungskriminalität aus Gründen der finanziellen Verhältnismäßigkeit schlicht zu teuer. Da gibt es rechtsstaatlich orientierte Argumentationen, die die grundgesetzlich garantierte Gleichbehandlung der legalen mit den illegalen Drogen einfordern. Drogenpraktikern geht es bei einer Repressionsverminderung häufig einfach um das Oberleben ihrer Klientel.
Geeint ist die sehr unterschiedliche Schar derjenigen, die für die Entkriminalisierung, Freigabe und/oder Legalisierung illegaler Drogen plädieren, nur durch das Paradigma der Effektivität, d.h. es geht um Fragen wie etwa: "Wie kann man erreichen, daß möglichst wenig Menschen Drogen nehmen?", "Wie kann man der Verelendung der Drogenabhängigen Herr werden?", "Wie könnte eine gerechte bzw. eine unserem Rechtsstaat gerecht werdende Drogenpolitik aussehen?", zusammengefaßt: "Wie sieht eine Drogenpolitik aus, die möglichst wenig Probleme schafft und gleichzeitig möglichst viele Probleme verhindert oder löst?" D.h. es geht um Effektivität, sei sie nun ökonomisch, humanitär oder rechtsstaatlich definiert.
Mit der vorliegenden Abhandlung wird versucht, diesen Pfad der Effektivität und Nützlichkeit über weite Strecken zu verlassen, um die heute illegalen Drogen in einen weiteren gesellschaftlichen Rahmen einzuordnen. Dies, so ist die These dieser Abhandlung, sollte es ermöglichen, die Forderung nach einer veränderten Drogenpolitik nicht (ausschließlich) mit Aspekten kontrollökonomischer Effektivität zu begründen bzw. zu erklären, sondern vielmehr als eine Forderung zu begreifen, die sich aus der gesellschaftlichen Entwicklung selbst ergibt. Ein solcher Versuch ist in Ansätzen von Wolfgang Schivelbusch (1990) unternommen worden, der untersuchte, welche Zusammenhänge zwischen bestimmten Genußmitteln und den jeweiligen historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten und Entwicklungen bestehen. Sein Ergebnis war, grob formuliert, daß eine Wahlverwandtschaft zwischen den jeweiligen Genußmitteln und den kulturellen Hintergründen ihrer Konsumenten existiert. Jede Gesellschaft, so Schivelbusch (1990: 215), habe "die Genuß- und Rauschmittel, die sie verdient, die sie braucht und die sie verträgt."
Ich möchte in dieser Arbeit nun noch einen Schritt weitergehen und die durch nahezu die gesamte Literatur durchscheinende - Exklusivität von Genußmitteln und/oder Drogen in Frage stellen, indem ich behaupte, daß diese sogenannten psychoaktiven Substanzen zentrale Gemeinsamkeiten mit anderen Substanzen aufweisen, die der Mensch zu sich nimmt, also mit Nahrungsmitteln, Arznei- oder Heilmitteln. Es wird sich bei der eingehenderen Betrachtung zeigen, daß alle diese Substanzen über mehr gemeinsame denn trennende Aspekte verfügen. So stammen z.B. fast alle Substanzen und Mittel aus der Natur, alle befriedigen sie, wie wir sehen werden, Grundbedürfnisse der Menschen, werden in bestimmten Situationen auf bestimmte Arten und Weisen konsumiert, sind Träger von zum Teil herausragenden Bedeutungen und scheinen darüber hinaus alle potentiell in der Gefahr zu stehen, gemieden oder gar verboten zu werden. Zudem scheint die oben angeführte These der Wahlverwandschaft von Schivelbusch durchaus auch auf Nahrungsmittel ausdehnbar. So konstatiert z.B. Kubelka (1981, 25):
"Eine Zeit, die dekadent ist, muß auch dekadent essen. Es gibt tatsächlich gar keine Ernährung, die man allgemein der Menschheit empfehlen könnte, denn die Menschheit kann immer nur das essen, was sie zu erobern im Stande ist, d.h., wenn wir heute nur noch imstande sind, industriegefütterte Hühner zu erobern, dann müssen wir diese eben essen."
Es müßte daher möglich sein, den Umgang mit allen Substanzen und Mitteln mit einer einzigen Theorie zu erklären. Dabei bleibt die vorliegende Arbeit trotz des Auftauchens all' der Kartoffeln, des Kaviars, des Zuckers und ähnlichem in erster Linie eine Beschäftigung mit Drogen und Drogenpolitik, was auch in der Gewichtung der konkreten Beispiele zum Ausdruck kommt. Die hier vorgenommene theoretische Verallgemeinerung ist lediglich der Versuch, der oft geforderten Normalisierung im Drogenbereich bzw. in der Drogenforschung Rechnung zu tragen; hierzu sollen die Erkenntnisse z.B. der Ernährungswissenschaften, der Toxikologie und Pharmakologie für die sozialwissenschaftliche Drogenforschung - so weit möglich und nötig fruchtbar gemacht werden.
Aus diesem Grund ist Teil 1. meiner Ausführungen gerahmt von einer Theorie der Substanzen und Mittel, die ihre Thesen und Argumente vorwiegend, aber keineswegs ausschließlich, aus historischen und kulturvergleichenden Beispielen zu entwickeln versucht. In Teil 11. der Arbeit soll diese Theorie an der aktuellen gesellschaftlichen Situation überprüft und die gemachten Erkenntnisse dann schließlich doch wieder der Politik angetragen werden.
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung / Einleitung
TEIL I
1. Theorie der Substanzen und Mittel / 1.1.1. Die Neutralität der Substanzen und die Finalität der Mittel / 1.2. Die primäre Selektion der Substanzen und Mittel / 1.3. Die sekundäre Selektion der Substanzen und Mittel
2. Nahrung und Genuß in der vorindustriellen Zeit / 2.1. Die Ganzheitlichkeit der Diätetik in vorindustrieller Zeit / 2.2. Die distinktive Innovationsfreudigkeit des Adels / 2.3. Die Ernüchterung des Bürgertums / 2.4. Der Merkantilismus und die ersten politischen Verbote
3. Der Wandel der Nahrungs- und Genußgewohnheiten im 19. Jahrhundert / 3.1. Die produktionstechnischen Innovationen 3.2. Konsumgewohnheiten und Sozialstruktur / 3.2.1. Nahrungsgewohnheiten / 3.2.2. Genußgewohnheiten / 3.2.3. Die Situationen des Konsums
4. Theorie der Substanzen und Mittel II - Die Funktionen des Konsums / 4.1. Identitätsstiftende und integrative Funktionen / Die mikrosoziale Ebene / Die makrosoziale Ebene / 4.2. Kompensatorische Funktionen / Die mikrosoziale Ebene / Die makrosoziale Ebene / 4.3. Ökonomische Funktionen / Die mikrosoziale Ebene / Die makrosoziale Ebene / 4.4. Politische- und Herrschaftsfunktionen / Die mikrosoziale Ebene / Die makrosoziale Ebene / 4.5. Substanzen und Gesellschaft - Ein Affinitätsverhältnis
TEIL Il
5. Ernährung und Genuß in der Gegenwartsgesellschaft / 5.1. Auf dem Weg in die Modulationsgesellschaft / 5.2. Das Ende der traditionellen Eß- und Genußkultur / 5.3. Die Pflicht zum rationalisierten Genuß / 5.4. Die prekäre Grenze der Legalität / 5.4.1. Morsche Grenzpfähle / a) Gefährlichkeit / b) Suchtpotential / c) Substanzwirkung / d) Künstlichkeit / 5.4.2. Die Verteidigung der Grenze /5.5. Konsequenz: Die Öffnung der Grenze
6. Ein Modell zur Freigabe illegaler Drogen / 6.1. Welche Drogen freigeben? / 6.2. Wer darf Wo mit Drogen handeln? / 6.3. Soll es Konsumbeschränkungen geben? / 6.4. Sollen Steuern erhoben werden? / 6.5. Soll für Drogen geworben werden dürfen? / 6.6. Wer garantiert/kontrolliert Herstellung und Qualität? / 6.7 Wer trägt die Verantwortung bei Drogenunfällen? / 6.8. Resümee: Friedensdividenden
Schlußbetrachtung: Neue Affinitäten / Abkürzungsverzeichnis / Literaturverzeichnis
Autor
Dr. Phil., Diplom-Kriminologe und -Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Aufbau- und Kontaktstudium Kriminologie der Universität Hamburg. Veröffentlichungen: Drogenpolitik. Zur Entkriminalisierung und Legalisierung von Heroin. (AG SPAK, M 100, 1990); Drogen als Genußmittel. Ein Modell zur Freigabe illegaler Drogen. (AG SPAK, M 110, 1992)