Abstract
Dokumentation künstlerisch arbeitender Initiativen der reformierten Psychiatrie in Italien, mit ausführlichen Bildteil.
Vorwort
Künstlerisch arbeitende Initiativen im Umfeld der reformierten Psychiatrie gibt es heute viele in Italien. Sie formierten sich parallel zur Kritik therapeutischer Massnahmen, wie sie zugespitzt von der psychiatrischen Equipe in Triest 1973 formuliert wurden.
»Wir lehnen die Psychotherapie ab, weil sie die Verweigerung des Rechts sanktioniert, dass ein jeder über seine Beziehungen selbst entscheiden muss; wir lehnen die Gruppentherapie ab, weil sie die Verweigerung des Rechts sanktioniert, sich aufgrund seines eigenen Interesses zu organisieren; wir lehnen die Arbeitstherapie ab, weil sie die Verweigerung des Rechts sanktioniert, für seine Arbeit tariflich entlohnt zu werden; wir lehnen die Spieltherapie ab, weil sie die Verweigerung des Rechts sanktioniert, Feste zu feiern, wann und wie man will.« (Hartung 1980, S. 132) Die lose institutionelle Anbindung der künstlerischen Initiativen erlaubt es ihnen bis heute, einen therapeutischen Auftrag zurückzuweisen und dennoch heilsame Effekte ins Spiel zu bringen.
Einer zusammenfassenden Dokumentation und Reflexion haben sie sich bislang entzogen. Ihre Arbeit passt sich nahezu chamäleonartig den lokalen Bedingungen an; auch die Resonanz darauf bleibt zumeist auf die lokale Ebene beschränkt.
Sie verdienten eine grössere Beachtung, denn diese Initiativen bringen dort, wo sie auftauchen, zum Vorschein, dass mit der Öffnung der Anstalten und der Kritik der Psychiatrie auch die Sicherheiten über den psychopathologischen Ausdruck ins Wanken geraten sind.
Vom Sommer 1981 bis zum Sommer 1982 hatte ich zusammen mit dem Bildhauer Herbert Maria Juny selber die Gelegenheit, eine solche Initiative in Triest zu gründen: das Laboratotio Il Gatto (Gatto - Katze, Kater). So konnte ich Möglichkeiten und Grenzen einer bildnerisch arbeitenden Werkstatt aus der Nähe erfahren.
Das Laboratotio Il Gatto befand sich auf dem Gelände der ehemaligen psychiatrischen Anstalt von Triest. Die Werkstatt war öffentlich, doch wurde sie hauptsächlich von entlassenen Langzeitpatienten, die heute noch auf dem Anstaltsgelände wohnen, besucht.
Die Arbeiten, die im Laboratotio Il Gatto entstanden sind, gaben den Anstoss für das vorliegende Buch. Sie schienen mir wenig gemeinsam zu haben mit den bekannten Sammlungen über die Kunst der Geisteskranken und auch nicht vergleichbar zu sein mit Laienarbeiten Erwachsener.
Bei meinen Versuchen, mir ein Verständnis zu erschliessen, fand ich erste Bezüge direkt an Ort und Stelle in der Subkultur der ospiti ( ospiti - Gäste; vgl. auch Kapitel »Der Gaststatus der Bewohner von San Giovanni«). Diese hatte sich nach der Öffnung der Anstalt, parallel zum schrittweisen Rückzug der psychiatrischen Institution, aus dem Leben der ospiti entwickeln können.
Um die heutige Situation der ospiti und auch ihre ästhetischen Äusserungen verstehen zu können, war ein kurzer Rückblick auf die institutionellen und rechtlichen Veränderungen im Zuge der italienischen Psychiatriebewegung nötig, die richtungweisend für ganz Italien in Triest formuliert und verwirklicht worden sind.
Während meiner Arbeit im Laboratotio Il Gatto führte ich ein Tagebuch, in dem ich Beobachtungen aus dem Alltag der Bewohner von San Giovanni, der ospiti, sammelte. In einem zweiten Teil habe ich mich bemüht, das Feldmaterial zu ordnen und zu analysieren. Es ist auch der Versuch einer Bestandsaufnahme, wie sich die reformierte Psychiatriearbeit ca. zehn Jahre nach der Anstaltsöffnung auf die Lebensbedingungen der Langzeitpatienten ausgewirkt hat. Der Gaststatus, der ihnen heute zukommt, und seine Handhabung antwortet sehr geschmeidig auf die lokalen Gegebenheiten und ist deshalb kaum als Ganzes übertragbar. Ein gewisses Aufblühen der Subkultur, der Freiraum, der sich auftat, war als Rehabilitationsmassnahme nicht mitgeplant worden. Es war das Resultat einer Autonomisierung, eines Rückgangs der Kontrolle und der Anstaltsleerung. Nichtsdestoweniger strukturiert dieser bislang in der Literatur wenig beachtete Effekt der subkulturellen Einbindung den Alltag der ospiti und steht deshalb an Bedeutung der rechtlichen und materiellen Lebensverbesserung kaum nach.
Ausgehend von dieser Subkultur und von dem istrianischen Kulturkreis, aus dem viele ospiti stammen, versuche ich im dritten Teil des Buches eine Interpretation der ästhetischen Äusserungen der ospiti unter Vermeidung einer Pathologisierung der Arbeiten. Vorab jedoch setze ich mich mit der Rezeptionsgeschichte des psychopathologischen bildnerischen Ausdrucks auseinander. Auf van Gogh, Dali und andere Künstler, deren Werk zwar auch von einer psychopathologischen Interpretation gestreift wurde, deren Bedeutung jedoch weit darüber hinaus reicht, bin ich nicht eingegangen. Meine Aufmerksamkeit richtete sich vor allem darauf, die Kollision des psychiatrischen und des künstlerischen Blicks auf die bildnerische Produktionen derjenigen zu verfolgen, die für geisteskrank gehaltenen werden. Wie das dabei Erstrittene immer wieder in Gefahr war und ist, vom Kunstbetrieb, seinen kommerziellen wie staatlichen Institutionen und auch von einzelnen Künstlern vereinnahmt zu werden, erläutere ich im Zusammenhang mit den bekanntesten Sammlungen dessen, was seit Jean Dubuffet als Art brut gilt. Zwischen dem diagnostischen Zugriff und einer oft zweifelhaften künstlerischen Überschätzung schien mir eine Interpretation als kulturell abgedrängte ästhetische Äusserung - in Anlehnung an Carlo Ginzburg - eine adäquate Möglichkeit zu sein..
Die aufgeworfene Problematik überschritt den Rahmen einer einzelnen Disziplin und überschneidet sich mit Fragestellungen aus der Soziologie, Politologie, Psychiatrie, dem Recht, der Geschichts- und Kunstwissenschaft und greift auch auf Ginzburgs saperi locali (lokale Wissensformen) zurück.
Teilweise musste ich mit Begriffen arbeiten, deren Eindeutigkeit in der wissenschaftlichen Kontroverse abhanden gekommen ist, wie etwa dem Begriff der Schizophrenie. Alltagssprachliche Umschreibungen als »Verrücktheit«, »Irresein« verschleiern das Problem weniger, lösen es jedoch nicht. Andere Begriffe sind wegen ihrer Konnotationen im italienischen, die manchmal erst durch ihre Verwendung in der Psychiatriebewegung entstanden sind und für die sich im Deutschen keine zufriedenstellenden Entsprechungen fanden, weitgehend im Italienischen belassen worden: so etwa der Begriff des ospite oder utente (etwa: Benutzer).
Eine offene, selbstkritische und manchmal etwas räuberische Methodenvielfalt schien mir noch am ehesten auf die Komplexität des Themas zu antworten. Eine chronologische und deskriptive Bearbeitung des Themas wurde zur Grundlage, aus der sich die Problematik entfaltet.
»Es wäre wohl einfacher, wenn wir uns auf das eigene Arbeits- und Forschungsgebiet beschränken und die für die wissenschaftliche Analyse unerlässliche Distanz zwischen Wissenschaftler und Forschungsobjekt wahren würden. Solange sich wissenschaftliche Arbeit an normative Wertbegriffe hält, gilt sie als seriös und respektabel, denn sie schirmt sich dagegen ab, von der Wirklichkeit in Frage gestellt zu werden. Wenn dagegen eine Arbeit von der Wirklichkeit selbst und ihren Widersprüchen ausgeht und darauf verzichtet, ein Modell zu konstruieren, das die eigenen Thesen sanktioniert und kodifiziert, so setzt sie sich dem Vorwurf des ambitiösen, ineffektiven Dilettantismus aus im Hinblick auf alles, was noch nicht zur Norm gehört, und führt zur Widersprüchlichkeit einer sich ständig wandelnden dialektischen Situation.« (Basaglia 1973, S. 7)
Das vorliegende Buch will zur Rede und Gegenrede herausfordern, im Bewusstsein dessen, dass eine in gewisser Weise überfällige Diskussion um die Rezeption ästhetischer Äusserungen im Umfeld der reformierten italienischen Psychiatrie dadurch erst angerissen, jedoch in keiner Weise abgeschlossen wird.
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Teil 1:Zur Geschichte, Theorie und Praxis der psychiatrischen Anstalt von Triest / Die Geschichte der psychiatrischen Anstalt von Triest von 1908 - 1971 / Die Transformation der psychiatrischen Anstalt in die Servizi di Salute Mentale / La Memoria di Trieste und die »apologetische Falle« oder über die Schwierigkeiten einer historischen Rekonstruktion der Triester Irrenanstalt / Leiden, Krankheit, Gesundheit / Der dialektische Praxisbegriff / Die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse / Die heutige psychiatrische Versorgung Triests und die zentrale Stellung des Langzeitpatienten / Der Gaststatus der Bewohner von San Giovanni / Der Volontär / Psychiatriepolitik -Kulturpolitik
Teil 2: Das Laboratorio Il Gatto und die Subkultur der Bewohner von San Giovanni / Chronologischer und konzeptueller Verlauf des Laboratorio Il Gatto / Das alltägliche Leben der Bewohner von San Giovanni - Elemente einer Subkultur / Der Park von San Giovanni / Von der psychiatrischen Topographie zur Vernetzung der Refugien / Qua mai passa tempo: Die Lebenszeit - die Tageszeit - das Gewicht der Gegenwart - die Präsenz des Todes / Der Schritt - das Mass des Raumes - das Mass der Zeit - eine Spekulation / Moden und Trachten in San Giovanni / Rudimente einer internen Ökonomie / Wer gilt was in San Giovanni?
Teil 3: Die Auswertung der Arbeiten des Laboratorio Il Gatto im Zusammenhang mit der bisherigen Rezeption des psychopathologischen bildnerischen Ausdrucks / Die Prinzhorn-Sammlung und ihre Resonanz / Die Vorläufer Prinzhorns / Zur Theorie der Gestaltung / Prinzhorn und Morgenthaler / Ernst Kris - eine psychoanalytische Antwort / Die Bedeutung der Prinzhorn-Sammlung für die Bildende Kunst in Deutschland / Die Surrealisten und die Irrenkunst / Jean Dubuffet und die Collection de l’Art brut / Jean Dubuffets antikulturelle Position / Die Geschichte der Collection de l'Art brut und ihre Präsentation / Zustandsgebundene Kunst / Das Ausserkulturelle - ein romantisches Erbe /Das Laboratorio Il Gatto - Einleitung zur Photodokumentation
Bildteil / Mit Photos von Herbert Maria Juny / Zur Zeichnung, Farbmalerei und Plastik im Laboratotio Il Gatto / Ein Blick in das Laboratorio Ponte / Bezugspunkte der Gatto-Arbeiten zu ästhetischen Ordnungsmustern slowenisch-kroatischer Volkskunst / Der ästhetische Konsens - die ästhetische Kommunikation / Warum die Gatto-Arbeiten nicht mehr am psychopathologischen Ausdruck zu messen sind / Die kleine Emotion - die Gatto-Arbeiten im Spiegel der gegenwärtigen Kunst? / Was sich mir an diesen Bildern erschliesst - »ein Kurzschluss«?
Literatur